Buch der Woche KW 48 bis 52/2025
Auf dieser Seite stelle ich mehr oder weniger regelmäßig Auszüge aus einem meiner Bücher als kleine Leseprobe ein.
In den folgenden Wochen bringe ich Auszüge aus dem Buch 'Wen die Götter strafen wollen ...'
Das erste Kapitel
Wen die Götter strafen wollen ... ... den lassen sie unglücklich verliebt sein
Ungefähr 2.500 Jahre nach der Katastrophe
… und fast einen ganzen Tag später als vorhin
Gissor gelingt es tatsächlich, die schweren Wunden des Vorarbeiters zu schließen. Der Bracko, dem der zum Opfer gefallen war, hatte den aus dem Sattel geworfen und vermutlich eher beiläufig den Arm abgebissen. Das Pferd war für den Bracko die interessantere Beute gewesen. Aber trotzdem wäre der Mann vermutlich noch in der Nacht gestorben, wenn er sich nicht seiner angenommen hätte. Wenn es sich bei Umat Kornfeld nicht um den ältesten Sohn des ältesten Bruders seines eigenen Vaters handeln würde, hätte er es abgelehnt, den Mann zu behandeln. Es ist ja nicht so, dass die Beschwörungen einfach mal so vor sich hingeplappert werden können, damit die ihre Wirkung entfalten, oder einem bestimmte Fähigkeiten verleihen. Über die vielen Zyklen, in denen er nun bereits Magus ist, hat er oft bemerkt, wie sehr ihn manche Beschwörungen anstrengen oder gar auszehren. Nicht alle sind so einfach und beiläufig anzuwenden, wie die Bestias Beschwörungen der ersten Stufe, die einem Menschen gewisse Fähigkeiten verleihen können. Das Sehen in der Dunkelheit mit den Augen einer Katze, das Hören mit den Ohren einer Eule, die Fernsicht mit den Augen eines Adlers, sind solche Beschwörungen, die kaum Kraft kosten, aber kompliziert in der Anwendung sind. Der Bengel hatte tatsächlich recht, als der sagte, sie hätten sich das für die Rückkehr nach Ringstadt vorgenommen. Er hatte das einfach vergessen. Vergessen! Er! Und das mit seinem Gedächtnis. Das macht ihm Angst, denn Vergesslichkeit ist das Ende eines jeden Magus. Das weiß man. Ihn fröstelt und vermutlich würde auch eine Beschwörung nichts daran ändern, die es ihm ermöglicht, seine unmittelbare Umgebung leicht zu erwärmen. Er lebt seit mehr als 67 Zyklen und als er vor 52 Zyklen von dem alten Werdel Goldnas als Lehrling aufgenommen wurde, bläute der ihm gleich am ersten Tag mit Schlägen ein, wie wichtig das Gedächtnis ist. Würde man sich jede einzelne Beschwörung aufschreiben müssen, um die bei entsprechender Gelegenheit zu rezitieren, müsste man einen gewaltig großen Wagen mit sich herumschleppen, der all die Schriftrollen enthalten würde, die man nötig hat, oder vielleicht nötig haben könnte.
„Wollt ihr den Arm so lassen, Meister?“ fragt Verlo und Gissor kann spüren, wie der jetzt am liebsten sein kürzlich erlerntes Wissen anwenden möchte. Der Bengel ist talentiert. Das steht außer Frage. Wäre er das nicht, würde er sich den auch erst gar nicht als Lehrling genommen haben. Er hat über die letzten Zyklen seine Ansprüche deutlich angehoben, denn keiner seiner letzten Lehrlinge lebte lange genug, um eines Tages einen qualifizierten Magus abgeben zu können. Unachtsamkeit und Nachlässigkeit bei den Beschwörungen, oder einfach nur Neugier und Ehrgeiz in die falsche Richtung, ließen die zum Teil qualvolle Tode sterben.
„Welche Beschwörung würdest du anwenden wollen, um den Arm und vielleicht sogar die Hand nachwachsen zu lassen und was werden die möglichen Folgen sein.“ fragt er seinen Lehrling. Er will sich jetzt keine Blöße geben und zugeben, zu erschöpft zu sein. Vielleicht könnte Verlo dem Mann wirklich helfen. Aber der muss auch die Konsequenzen verstehen. Keine von den wirklich komplexen Beschwörungen ist ohne Gegenleistung durchführbar.
„Also …“ beginnt Verlo seine Antwort, zögert einen Moment und fährt dann fort „… In dem Fall des Armes und der Hand, die man mit einer der komplizierteren Regenerate-Beschwörung wieder nachwachsen lassen könnte, würde der Mann auf jeden Fall ein paar Fähigkeiten einbüßen, die der vorher besaß. Weil man nicht wissen kann, um welche Fähigkeiten es sich handelt, könnte das zum Beispiel die Fähigkeit betreffen, den Schließmuskel am Arschloch zu kontrollieren. So habt ihr mir das einmal erklärt.“
„Richtig. So habe ich dir das einmal erklärt. Wobei das mit dem Schließmuskel noch eine eher harmlose Fähigkeit ist. Der Mann könnte auch die Fähigkeit verlieren, zu sehen, zu hören, zu sprechen oder was auch immer. Du könntest im Anschluss hergehen und dem mit weiteren Beschwörungen jene verlorenen Fähigkeiten zurückgeben, was dann zur Folge hätte …?“ er formuliert die Frage bewusst so, dass Verlo zum Nachdenken ermuntert werden soll. Es dauert aber einen Moment, bis der antwortet „Wenn man Pech hat, würde der zu einer Dauerbaustelle, wie der Palast des Fürsten der sieben Ebenen, der vermutlich niemals fertig werden wird. In Ordnung. Ich habe es verstanden, Meister.“
Gissor kann die Enttäuschung seines Lehrlings aus der Antwort heraushören.
„Es gibt noch eine Möglichkeit, diesen Verlust von einer bestimmten Fähigkeit bei diesem Mann zu verhindern, Verlo. Du könntest seinen Arm retten und ihm auch seine Hand wiedergeben. Das alles könnte für den ohne Konsequenzen bleiben.“
„Aha!“ ruft der Junge jetzt neugierig aus und zeigt, dass der jetzt bereit ist, um eine weitere wichtige Lektion zu lernen.
„Wenn du dem wirklich helfen willst, hast du die Möglichkeit, eine deiner eigenen Fähigkeiten zu opfern. Nehmen wir zum Beispiel deinen Schließmuskel, oder vielleicht noch besser, wir nehmen deine erst kürzlich entstandene Fähigkeit, mit einer Frau Kinder zu zeugen. Für einen Magus eine völlig unnütze Fähigkeit, denn es ist uns ja nicht gestattet, uns mit Männern oder Frauen zu begatten, wie du weißt.“
Einen Moment lang ist nur der Atem des Vorarbeiters zu hören. In die Stille hinein, sagt Gissor „Und wenn dann der nächste Mann kommt, dem ein Arm oder ein Bein fehlt, könntest du eine weitere deiner Fähigkeiten opfern, um dem zu helfen. Das könntest du so lange fortführen, bis du dich all deiner Fähigkeiten beraubt hast.“
Das Schweigen seines Lehrlings ist eigentlich Antwort genug. Aber Gissor ist mit seiner Lektion noch nicht fertig. „Es kommt für dich vielleicht auch einmal der Tag, wo du so eine Entscheidung treffen musst, wie der auch einmal für mich kam. Der Fürst der sieben Ebenen verlangte vor sicherlich 25 Zyklen nach meiner Hilfe. Seine Frau war im Kindbett gestorben und sein junger Sohn drohte ebenfalls zu sterben. Ich musste damals eine Entscheidung treffen, von was ich mich trennen möchte und ich traf meine Entscheidung, denn auf keinen Fall konnte ich den gerade erst geborenen Knaben gefährden.“
Der neugeborene Prinz war ihm damals völlig gleichgültig gewesen. Gissor fand es bedauerlicher, dass die hübsche Frau des Fürsten gestorben war. Aber der Fürst war mit seiner Drohung eindeutig gewesen. Leben für Leben. Und so verlor er damals die unnützen Fähigkeiten, Lust zu empfinden und Kinder zu zeugen. Und es hatte da noch eine weitere Gelegenheit gegeben, bei der er ein körperliches Opfer brachte. Er hatte damals einem Mann das Leben genommen, um einer Frau die Möglichkeit zu geben, Kinder zu empfangen und lebend zur Welt zu bringen. Es ist wahrscheinlich dieser Ort hier, der ausgerechnet jene Erinnerungen aus den Tiefen seines Gedächtnisses Gestalt annehmen lässt. Aber muss er ausgerechnet darüber mit seinem Lehrling plaudern? Nein! Auf keinen Fall!
„Wenn der Mann will, werde ich dem ein Stück seines Armes wachsen lassen. Aber ich werde dem auch das Risiko verdeutlichen, eine seiner anderen Fähigkeiten dabei zu verlieren.“ sagt Verlo mit reduzierter Begeisterung „Aber das werde ich erst morgen tun.“
Gissor vernimmt es mit Genugtuung und verlässt mit Verlo die Kammer, in der man den Schwerverletzten untergebracht hatte. Die restliche Behandlung können jetzt andere übernehmen. Einer der Hausdiener fordert sie beide auf, dem Herrn Umat Kornfeld und seiner Gemahlin Galalea Gesellschaft zu leisten, was kaum Gissors Vorstellung entspricht, wie er den Rest des Abends verbringen wollte. Eigentlich hätte er sich gerne mit der Frage auseinandergesetzt, ob dieser Vorfall mit dem Vergessen eines bestimmten Themas ein einmaliger Vorgang sein könnte, oder der Beginn eines Prozesses, den es zu beobachten und vielleicht zu behandeln gilt. Er hat in seinem Turm in Ringstadt ein paar Schriftrollen zu dieser Problematik und keine der darin beschriebenen Beschwörungen ist ohne Risiko. Er hatte es selbst über die Zyklen lernen müssen, dass Beschwörungen grundsätzlich etwas fordern. Und sei es bloß Kraft und Körpersubstanz. Es verhält sich damit wie bei einer Waage. Um ein Gleichgewicht zu erhalten, müssen immer beide Seiten einer Waage bedient werden. Legt man links etwas auf, muss man das auch rechts tun. Nimmt man links etwas weg, muss man das auch rechts tun. So einfach ist das. Der Magus, der das nicht berücksichtigt, wird irgendwann einmal von den Dämonen verschlungen, denn die fordern ihren Tribut. Je früher Verlo das durch eigene Erfahrung lernt, desto eher wird er verstehen, dass er auch seinem Körper gegenüber eine Verantwortung hat. So wie er selbst. Aus diesem Grund folgt er mürrisch dem Diener in das große Kaminzimmer, wo sie bereits von Galalea erwartet werden. Umat ist allerdings nirgends zu sehen.
„Es ist lange her, alter Freund.“ sagt die einstmals wunderschöne Frau. Sie hatte nicht am Abendmahl teilgenommen und Gissor war deswegen einerseits erleichtert gewesen und andererseits hatte er es bedauert. Seit jenem Tag vor etwa 20 Zyklen hat er sie nicht mehr gesehen. Aus den Augenwinkeln hatte er ihre drei Töchter beobachtet, die während des Abendessens am anderen Ende der langen Tafel im Halbdunkel gesessen hatten und ihn ebenfalls zu beobachten schienen. Aber deren primäres Interesse galt natürlich eher Verlo. Etwas anderes wäre auch eine Überraschung gewesen. Galaleas jüngste Tochter muss ja ungefähr so alt wie der sein, während die älteste jetzt ziemlich genau 19 Zyklen alt sein muss.
„Es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen.“ sagt er und bleibt vor ihr stehen. Jetzt, wo er sie im Licht des Kamins und der Talglampen betrachten kann, fallen ihm alle Gefühle wieder ein, die er jemals für diese Frau empfand. Und das mit der Freude meint er wirklich so, wie er es sagte.
„Wirst du mir deinen jungen Begleiter vorstellen, Giss?“ auch wenn ihr Körper sichtlich gealtert und ihr einstmals wunderschönes Gesicht von zahllosen Falten überzogen ist, hat sich ihre Stimme nicht verändert. Vor allem, wenn sie ihn mit ihrer Stimme neckt.
„Du hättest ihn heute Abend beim Abendessen vorgestellt bekommen können, Lalea. Aber für dich hole ich das gerne nach. Sein Name ist Verlo. Sein Vater ist, oder war einer der Schwertkämpfer von Fürst Ledolce.“
„Valia hat mir bereits von ihm erzählt. Er soll mit einem alten Teppich geflogen sein, sagte sie.“
„Heute Morgen erst. Richtig. Ich habe Umat davon erzählt und ich erzählte ihm auch, welches Glück Verlo hatte, nicht von einem Lasna oder einem Watcho zum Frühstück gefressen worden zu sein.“
„Setzt euch beide ein wenig zu mir und hört euch mein Anliegen an.“
„Ich hatte eigentlich angenommen, Umat würde uns Gesellschaft leisten.“ erwidert Gissor, ohne der Aufforderung nachzukommen, sich zu ihr zu setzen. Er weiß zwar nicht genau, um was es Galalea geht, aber er weiß, dass sie ein ungewöhnliches Anliegen hat. Sonst würde sie nicht diesen Rahmen wählen.
„Na komm! Setz dich Giss! Dann muss ich nicht ständig nach oben starren. Du bist schon immer ein hochgewachsener Mann gewesen und nach oben zu blicken, geht mir aufs Genick.“
Gissor nickt Verlo zu und sagt „Du kannst schon zu Bett gehen, Verlo. Verinnerliche dir noch einmal die Beschwörung der Katzenaugen und denke darüber nach, was wir vorhin wegen der Heilung von Verletzungen besprachen.“
„Lass ihn bitte anwesend sein, Giss.“ fordert ihn Galalea auf und deutet erneut auf die bequemen Stühle neben sich. „Setzt euch, ihr beiden und hört euch an, was ich euch zu sagen habe.“
Wortlos deutet Gissor auf jenen Stuhl der Galalea am nächsten steht und setzt sich auf den anderen. Als sich Verlo dann gesetzt hat, fragt er mit einem beinahe abweisenden Tonfall „Was ist es, was du von uns willst, Galalea Kornfeld.“
„Warum so abweisend, Giss? Es ist nichts, was deinem jungen Begleiter nicht möglich wäre. Er ist im richtigen Alter und er scheint ein heller Kopf zu sein. Und das hat noch nicht einmal etwas mit seinen strohgelben Haaren zu tun.“
„Galalea! Du weißt genau, dass es für einen Magus unmöglich ist …“ er spricht nicht weiter, weil er sich die richtigen Worte zurechtlegen will. Fassungslos stellt er fest, dass ihm die richtigen Worte abhandengekommen sind. Bei allen Göttern und bei allen Dämonen! Wenn das so weitergeht, wird er sich davor hüten müssen, komplexe Beschwörungen durchzuführen.
„Du musst dich nicht aufregen, Giss. Als Adept kann und darf er noch, ohne dass es verwerflich wäre, oder Konsequenzen für seine Seele hätte. Du weißt, dass ich es wissen muss.“
„Warum er? Er wird sein Leben lang leiden. Er wird sich sein Leben lang danach sehnen, es zu wiederholen.“
„Ich möchte dir jetzt nicht zu nahetreten, Giss. Du weißt, dass ich dich verehre und du weißt viel besser, als jeder andere Mensch auf der Welt, was ich dir zu verdanken habe. Aber in dieser Angelegenheit kannst du nicht mitreden. Hast du doch damals ein paar Jahre zuvor deine Männlichkeit geopfert, um Prinz Nistar das Leben zu retten.“
Gissor muss sich beherrschen, um nicht von seinem Stuhl aufzuspringen. Er beschränkt sich darauf, jene Frau, die er damals sofort in sein Herz schloss und die er zu lieben meinte, anzufahren „Galalea! Du vergisst dich! Das geht niemand etwas an und meinen Lehrling schon dreimal nicht.“
© Hartmut Emrich MMXIV - MMXXVI
