Hartmut Emrich

Autor und Herausgeber

Buch der Woche KW 18 bis 19/2023

Auf dieser Seite stelle ich mehr oder weniger regelmäßig Auszüge aus einem meiner Bücher als kleine Leseprobe ein.

In den folgenden Wochen bringe ich Auszüge aus dem Buch 'Wen die Götter strafen wollen ...'

Das erste Kapitel 

Die Schule des Magus

Ungefähr 2.500 Jahre nach der Katastrophe

Also mal ehrlich! Was soll man von so einem Bengel auch erwarten, oder? Jeder halbwegs gebildete Mensch und vor allem jeder Magus weiß, dass Teppiche nicht fliegen. Türen, breite Bretter und sogar Holzbänke eigenen sich hervorragend zum Fliegen. Zumindest, wenn man den Bänken vorher die Beine entfernt hat. Aber Teppiche?
„Nun sieh es endlich ein. Du wirst dir den Hals brechen und dann werde ich mit einer komplizierten Beschwörung bei einem ziemlich mächtigen Dämon einen Gefallen einfordern müssen, der mir dann die Kraft gibt, deinen Hals …” Gissor lässt sich fallen und es gelingt ihm gerade so eben, sich flach auf das schmutzige Pflaster zu drücken. Er kann den Lufthauch des beschleunigenden Teppichs an seinen Nackenhaaren spüren. Und er kann Verlos zunächst lauten und dann schnell leiser werdenden und überraschten Ruf hören „Meister! Wie hält man den jetzt an?”
Gissor richtet sich auf und versucht vergeblich, sich den Schmutz aus seinem dunkelblauen Umhang und seinem, zuvor noch weißen Rock zu klopfen, der eigentlich seinen Status als Magister Magus anzeigen soll.
„Verflucht!” murmelt er, meint dabei aber dabei nicht die Flecken in seiner Kleidung. Es ist der schnell kleiner werdende Punkt, der jetzt in Hüfthöhe über den Spiegelsee saust. Beiläufig sagt er „Purga Habitus.” worauf seine Kleidung vom Schmutz befreit ist. „Ein Teppich! Ausgerechnet ein fadenscheiniger Teppich!” murmelt Gissor, während er seine Augen mit seiner linken Hand beschattet, um den Flug seines Lehrlings mit dem alten und mottenzerfressenen Teppich noch ein wenig zu verfolgen, bis der womöglich außer Sicht gerät.
„Das darf doch jetzt nicht wahr sein. Da sitzt der verfluchte Bengel auf dem verfluchten Teppich und fliegt damit, als ob diese Verkettung loser Fäden ein Vogel wäre.”
Gissor Ferall, seines Zeichens Magister Magus am Fürstensitz Ringstadt und außerdem einer der bekanntesten Dämonenbeschwörer der Tellerwelt Agri, kann jetzt nur ahnen, dass der Teppich samt seinem Lehrling am jenseitigen Ufer des Spiegelsees angekommen ist. Dort drüben erhebt sich ein großer Vogelschwarm, der eine Schleife über den See fliegt und sich dann wieder dort niederlässt, wo der zuvor aufgestiegen war. Vermutlich sind es Silberreiher. Die brüten drüben in dem hohen Schilf in einer großen Brutkolonie. Gissor blickt sich suchend um und entdeckt lediglich einen Besen, der zu dem Schiffsanleger gehören mag. Auf keinen Fall wird er sich jetzt auf einen Besen-stiel setzen und sich seine Hoden abdrücken. Auch wenn man, zumindest in der Theorie, mit Besen fliegen könnte; warum sollte man das als Magus tun? Seine Hoden sind zwar seit mehr als 25 Zyklen nur noch nutzlose Anhängsel, aber Schmerzen kann er in denen noch immer empfinden. Endlich findet er etwas Geeignetes. Die grün gestrichene Tür vom Haus des Fährmanns. Nur ein paar Augenzwinkern später gleitet er, mit überschlagenen Beinen auf der grünen Tür sitzend und einen schimpfenden Fährmann zurücklassend, über den Spiegelsee. Er hat ein gutes Gedächtnis. Es ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen Magus, ein gutes Gedächtnis zu besitzen. Ohne ein gutes Gedächtnis kann man sich keine der zahlreichen Beschwörungen merken. Und man sollte die sich gut merken können. Ein kleiner Fehler, eine falsche Silbe, ein Versprecher und schon ist die Bedeutung eine völlig andere. Kein Magus sollte das Risiko eingehen, eine Beschwörung durch einen Versprecher in seinem Sinn zu Verändern. Möglicherweise, oder sogar wahrscheinlich, würde einem jener Dämon den Körper stehlen, den man vorher anrufen wollte. Dämonen haben immer das Ziel, unvorsichtigen Menschen den Körper zu rauben. Dämonen sind hinterlistig und Dämonen sind heimtückisch. Aber Dämonen haben zum Glück ein schlechtes Gedächtnis. Und im Prinzip sind Dämonen dumm. Aber wenn man denen die Gelegenheit bietet, durch eine falsche Beschwörung Macht über einen Magus zu erlangen, dann tun die das, ohne zu zögern und ohne großartige Vorankündigung. Da kommt kein triumphierendes „Ha! Du Dummkopf hast einen Fehler gemacht! Du hättest ’Volare!’ anstatt ’Volante!’ sagen sollen.“ Nein, die zögern nicht einen Augenblick. Von jetzt auf gleich verdrängen die den Geist des Unvorsichtigen und leben für ein paar Tage in dem seinem Körper. Erst dann jubeln und frohlocken die vielleicht. Wobei es die ganz und gar heimtückischen bevorzugen, ihren Triumph zu verbergen und noch eine Weile vorgeben, derjenige zu sein, der die Beschwörung aussprach. Das geht solange, bis der Körper dann zu zerfallen beginnt und sich schließlich auflöst. Er hat das während seines langen Lebens schon etliche Male gesehen. Es waren nicht nur die jungen und unerfahrenen Adepten und Lehrlinge. Es waren auch erfahrene und erprobte Magister darunter, die aus Nachlässigkeit jenen verhängnisvollen Fehler begingen. Oder zu viel Wein getrunken hatten, wie im Fall von Phallis Extor, der im betrunkenen Zustand die Beschwörung für ein ewig leuchtendes Feuer durchführen wollte. Der hatte das Wort ’Illuminare’ vernuschelt und der Dämon hatte den sofort befallen und die Zeugen des Vorfalls auch sofort informiert. „Illuminare, du ignoranter Esel! Illuminare und nicht lummare!“ hatte der Dämon laut lachend und schadenfroh ausgerufen. Gissor war damals einer der Zeugen des Vorfalls gewesen und der über etliche Umdrehungen hinweg andauernde Zerfall von Phallis Körper ist ihm eine wichtige Warnung gewesen.
Gissor hat ein gutes Gedächtnis. Er hat sich den Vorfall mit Phallis ebenso im Gedächtnis behalten, wie er sich die Beschimpfungen des Fährmanns im Gedächtnis behalten wird, der sich wegen seiner grün gestrichenen Tür aufregt, als hätte ihm Gissor mit einer besonders geschickten Beschwörung ein Loch in dessen Fähre geschlagen, so dass die mit ihm in der Mitte des Spiegelsees untergegangen sei. Jene Mitte des Sees, die er jetzt bereits hinter sich gelassen hat. Vor sich kann er schon die Schneise im Schilf sehen, die Verlos Teppich hinterließ. Es ist eigentlich ganz einfach, der Spur zu folgen. Gissor ist kein geschickter Fährtenleser und sicher kein erprobter Jäger, aber hier ist es selbst für ihn keine Herausforderung. Er muss lediglich der Schneise folgen. Mit dem Befehl ’Volare’ lässt er die Tür ein wenig steigen, denn auf keinen Fall möchte er jetzt einem hungrigen Lasna die Möglichkeit bieten, ihn zu seinem späten Frühstück einzuladen. Als Hauptbestandteil des Frühstücks. Lasnas sind heimtückische Jäger, deren schilffarbendes gestreiftes Fell eine hervorragende Tarnung darstellt. Was nützt es, wenn man gut drei Dutzend wirkungsvolle Beschwörungen kennt, um Lasnas, Brackos, Pellner und Watchos zu bannen, wenn man keine Zeit mehr hat, jene Beschwörung auszusprechen? Eben!
In einer Höhe von vielleicht drei Standard Mannshöhen gleitet er, auf der Tür sitzend, über das Schilf und verfolgt die Schneise, die der Teppich hinterließ. Ein wenig ist er vom Erfolg seines Lehrlings beeindruckt, diesen alten Teppich zum Fliegen zu bringen, den irgendwer am Ufer des Spiegelsees entsorgt hatte. „Meint ihr, Al-Bals Teppichbeschwörung würde bei dem alten Ding funktionieren, Meister?“ hatte der gefragt und auf den fadenscheinigen Teppich gedeutet, der halb aufgerollt zwischen dem Schwarzbeerengestrüpp lag.
„Al-Bal? Teppichbeschwörung?“ hatte er seinen Lehrling dummerweise gefragt und damit zu erkennen gegeben, dass er nicht wusste, von was der Bengel sprach. Anstatt ihm seine Gegenfragen zu beantworten, hatte der den Teppich auf den gepflasterten Weg gezerrt und vollständig ausgerollt. Im nächsten Augenblick war der, entgegen aller Vernunft und vor allem entgegen des bekannten Wissens vieler Generationen mächtiger Magis auf dem Teppich über ihn hinweggeflogen. Der hatte ihn mit der unbeantworteten Frage über diesen Al-Bal zurückgelassen. Wer bei allen Göttern und allen Dämonen ist dieser Al-Bal, dass der Beschwörungen kennt, um Teppiche fliegen zu lassen und vor allem, warum kennt er den nicht. Und woher kennt Verlo Orphan, dieser vorlaute und übereifrige Bengel, diesen Al-Bal, wenn er selbst den nicht kennt?
„Meister Gissor? Seid ihr das?“ hört er jetzt von links irgendwo die Stimme Verlos. Er befiehlt der Tür, ihren Flug abzubremsen und blickt sich suchend um.
„Hier! Hier unten im Schlamm, Meister.“ ruft die Stimme und Gissor kann endlich eine Gestalt erkennen, die vage nach seinem Lehrling aussehen könnte. Zumindest, wenn man ein wenig Fantasie besitzt, denn unter der dicken Schlammschicht und den daran haftenden Schilfwurzeln könnte sich wirklich jener Junge befinden, dessen gelblichen Haare der normalerweise zu Zöpfen geflochten hat. Die Haare sind ebenso Schlamm bedeckt, wie der Rest der Gestalt und lediglich die himmelblauen Augen sind ein Indiz für die Identität seines Lehrlings. Er senkt die Tür ab und fordert Verlo auf „Komm, du Strafe der Götter. Ich habe keine Lust, wegen dir noch im Magen eines hungrigen Lasnas zu enden.“
Er muss die Tür tatsächlich mit einer zusätzlichen Beschwörung stabilisieren, bevor es Verlo gelingt, sich auf die Tür zu ziehen. Gissor verzieht wegen des fürchterlichen Gestanks das Gesicht und beeilt sich, die Tür schnell wieder steigen zu lassen. Der Bengel mag vielleicht wegen des Gestanks nach altem Schlamm und was auch immer, nicht von einem Lasna, oder einem anderen Menschenfleisch fressenden Räuber entdeckt worden sein. Aber er lag nicht in dem stinkenden Unrat und tatsächlich kann er jetzt, als er jene Position verlässt, auf der er eben seinen Lehrling aufnahm, von zwei Seiten eindeutige Bewegungen im Schilf erkennen. Sie befinden sich keine zwei Dutzend Schritte entfernt, als hinter ihnen die Kampfgeräusche eines Lasna und vermutlich eines Watchos zu hören sind.
„Was hast du dir bloß dabei gedacht?!“ wendet er sich seinem Lehrling zu, während die Tür jetzt mit der Geschwindigkeit eines schnell fliegenden Vogels das Schilf hinter sich lässt und hoch über den See saust.
„Aber es hat doch funktioniert, Meister.“ antwortet Verlo, als ob der auch noch Stolz darauf wäre, jene Rettungsaktion verursacht zu haben. Gissor schüttelt verärgert mit dem Kopf und nimmt sich vor, dem Bengel nach der Rückkehr an den Fähranleger von Zangenhafen eine Lektion zu erteilen. Aber zunächst lässt er den durch einen spontanen Halt von der Tür rutschen, als sie den Fähranleger erreicht haben. Der noch feuchte Schlamm fungiert dabei als hervorragendes Gleitmittel. Nur wenige Augenblicke später hängt die vormals grün gestrichene und nun mit Schlamm beschmierte Tür wieder in ihren Angeln. Und weil Gissor über ein wirklich hervorragendes Gedächtnis verfügt, bekommt der Fährmann, der sich jetzt wegen der Tür beschweren will, deutlich sichtbar eine dicke Warze an die Nase und ein dickes Geschwür dorthin, wo das Licht der Sonne eher selten zu sehen ist. „Das wird dir eine Lehre sein, den Magister Magus Gissor Ferall von Ringstadt zu beleidigen, wenn dieser dir die Ehre erweist, bei einem Notfall behilflich sein zu können, Elen-der!“
Verlo, der sich noch im Wasser befindet und nicht unterzugehen versucht, ist natürlich noch immer schmutzig und der Schlamm wird nur durch das Wasser auch nicht abgewaschen. Nach einem laut ausgesprochenen „Rotare!“ beginnt sich der Körper seines Lehrlings schnell um die eigene Längsachse zu drehen, wodurch das Wasser des klaren Spiegelsees an jener Stelle schaumig braun wird. Aber Gissor will den Bengel ja nicht ertränken und auch nicht als Futter für einen der großen Rockfische enden lassen. Mit einer weiteren Beschwörung holt er den wieder auf dem Wasser und lässt den, noch immer wie einen Kreisel um die eigene Achse rotierend, über den See steigen, wo der für einen schlammigen Regen sorgt. Als Gissor den Eindruck hat, der Regen würde schwächer, holt er den schließlich wieder zurück an Land. Verlo fällt besinnungslos neben ihm auf das Pflaster, wo sich augenblicklich eine schlammfarbene Pfütze bildet. Ohne Mitleid mit seinem Lehrling zu haben, sorgt er mit einer einfachen Beschwörung dafür, dass der wieder zu sich kommt. Hustend und spuckend versucht sich Verlo aufzurichten, kippt jedoch immer wieder zur Seite. Das sind die Nachwirkungen der schnellen Rotation und die kann Gissor nicht ausgleichen.
„Was hast du dir bloß dabei gedacht, Verlo?“ fragt er, wie vorhin bereits und ergänzt die zuvor bereits gestellte Frage „Warum musstest du auch aussehen, als ob du dich wie ein Schlauchnas im Schlamm gesuhlt hättest.“
„Ich … ich musste doch von dem Teppich springen, Meister.“ sagt der mit unsicherer Stimme, was wohl mit dem Schwindelgefühl zu tun haben wird. „Der Teppich wäre sicherlich noch endlos weitergeflogen und dann mit mir darauf am Ende der Welt ins Nichts gefallen. Ich musste schnell eine Entscheidung treffen, denn hinter dem hohen Schilf kommen doch irgendwann die Felder der Leute von Eckberg und dort hätte ich mir dann wirklich den Hals gebrochen. So, wie ihr das bereits voraussagtet.“
„Hmm…“ brummt Gissor und hilft seinem Lehrling beim Aufstehen. „Zieh deine Sachen aus und geh dich am Ufer waschen. Ich werde deine Kleider inzwischen mit einer Beschwörung säubern. Und wenn du dich wäscht, dann kannst du die Beschwörung Bougans anwenden und dir den Gestank nach Schlamm und Unrat entfernen.“
Die sollte der Bengel ja inzwischen beherrschen. Schließlich lebt der jetzt schon seit fast vier Zyklen bei ihm, um von ihm in die Kunst der Beschwörungen eingewiesen zu werden.



© Hartmut Emrich MMXVI